Vor 20 Jahren, am 13. November 2005, kam der Antifaschist und Hardcore-Musiker Timur Kacharava infolge eines barbarischen Angriffs von Neonazis im Stadtzentrum von Sankt Petersburg ums Leben. Und obwohl sein Tod für uns nicht nur ein großer persönlicher Verlust war, sondern auch ein Ereignis, das in vielerlei Hinsicht den weiteren Verlauf unseres Lebens bestimmt hat, möchten wir auf keinen Fall, dass dieser Text wie ein Nachruf, eine sentimentale Erinnerung oder eine biografische Notiz wirkt. Das Ziel, das wir verfolgen, geht über jede persönliche Erfahrung und jede persönliche Biografie hinaus.
In seinen Thesen „Über den Begriff der Geschichte“ hinterließ uns Walter Benjamin einen verborgenen Hinweis, der uns hilft zu verstehen, wie die Auseinandersetzung mit Verlusten und verpassten Chancen in der Vergangenheit funktionieren kann. Er behauptete, dass eine solche Auseinandersetzung den linearen Verlauf der historischen Zeit unterbrechen könne, indem sie den Augenblick festhält und ihn mit befreiendem Sinn füllt. Er bezeichnete dies als „eine schwache messianische Kraft, an welche die Vergangenheit Anspruch hat“. Schwach, weil sie über keine äußere, transzendente Grundlage jenseits der Logik historischer Prozesse verfügt. Messianisch, weil sie in eine Handlung umgewandelt werden kann, die die Befreiung der Menschheit näher bringt.
Durch den Rückgriff auf Ereignisse, die zwanzig Jahre zurückliegen, wollen wir uns an die heutige Welt wenden, vor allem an unsere Freunde und an diejenigen, die es werden könnten. Jetzt, wo sich der neoliberale Kapitalismus rasant in offenen Faschismus verwandelt, vernehmen wir den messianischen Ruf und stellen uns der Verantwortung, unsere eigenen Erfahrungen mit Verlusten und Niederlagen als hoffnungsvolles kollektives Versprechen zu lesen.
Weitaus mehr als nur Musik
Ende der 90er und, Anfang der nuller Jahre, als wir noch Teenager waren, die gerade erst die Schule abgeschlossen und mit dem Studium begonnen hatten, machten wir erstmals Bekanntschaft mit der unabhängige Hardcore-Punk-Szene. Obwohl sich die Untergrund-Musikszene von St. Petersburg schon immer durch Originalität und Vielfalt ausgezeichnet hatte, war diese Entdeckung für uns eine echte Offenbarung. Wir stießen auf etwas, was, wie uns damals schien, weit über die musikalische Subkultur hinausreichte. Unsere impulsive Ablehnung unserer Umgebung nahm im Hardcore-Punk und der DIY-Ethik zum ersten Mal konstruktive Formen an. Musik war nicht mehr Selbstzweck, sondern geriet zu einer kollektiven Daseinsform, zu einem Werkzeug zum Aufbau einer Gemeinschaft, die trotz kultureller Unterschiede und Staatsgrenzen nach ihren eigenen autonomen Regeln existierte. Diese Regeln und Prinzipien erfuhren unterschiedliche Deutungen und nahmen unter dem Einfluss der in unserem Umfeld positiv aufgenommenen Ideen des Antifaschismus, Veganismus und Straight Edge im Verlauf ständiger Debatten und Meinungsverschiedenheiten Gestalt an. Mit unseren eigenen, begrenzten Mitteln mussten wir die gesamte Szene von Grund auf neu erschaffen: indem wir Konzerte organisierten, Zines herausgaben und CDs und Kassetten an interessierte Freunde und Bekannte verteilten. Diese selbstbestimmte Tätigkeit geriet für uns allmählich zu einem Hoffnungsschimmer für eine andere mögliche Welt, zu einem Einstiegspunkt in den Antifaschismus und Anarchokommunismus, zu einer Startrampe für politisches Handeln. Wir lernten Timur kennen, als er erst 14 Jahre alt war. Diese Zufallsbekanntschaft entwickelte sich zu einer tiefen Freundschaft und gemeinsamer Kreativität in der Musik.
Timur sog gierig alles auf, was wir selbst noch vor kurzem von anderen aufgesogen hatten, nahm Unmengen von Kassetten und CDs auf, kopierte Punk-, Hardcore- und Anarcho-DIY-Publikationen.
Wir probten lange und hartnäckig zusammen, versuchten uns beizubringen auf Instrumenten zu spielen und das zu kreieren, was später als “Sandinista!” bekannt werden sollte. Wir spazierten zusammen durch die nächtliche Stadt, ihre Parks, Vororte, Wälder und Uferpromenaden, hörten Musik, verschlangen regelrecht Heartattack!, Inside Front und „Vzorvanoe Nebo“ (der explodierte Himmel), tauschten Aufnahmen aus, führten Streitgespräch, nahmen an den ersten antifaschistischen Aktionen teil, kochten und verteilten Essen an Obdachlose, fuhren zu Punkfestivals und Konzerten nach Moskau und Minsk, Warschau, Riga, Vilnius, Prag, Pilsen und Berlin. Allmählich entwickelte unser gemeinsames Musizieren eine eigene Sprache, zunächst unter dem Einfluss harter Hardcore-Bands der 90er Jahre wie Unbroken und Refused aus der „Rather Be Dead“-Phase, später mit Blick auf den raueren, politisierten Hardcore/Punk im Stil von Econochrist, Tragedy und Catharsis.
Auch heute noch sind diese Aufnahmen für uns musikalisch und inhaltlich aktuell und das Ergebnis einer gemeinsamen Arbeit, bei der das Gesamtergebnis immer die Summe der individuellen Beiträge übersteigt. Dabei ist jedoch zu beachten, dass die endgültige Form dieser Songs weitgehend durch Timur’s brennende Begeisterung und sein musikalisches Talent bestimmt wurde.
Patriotismus als Diagnose
Im Gegensatz zur noch jungen und zahlenmäßig schwachen antifaschistischen Bewegung verfügten radikale Nationalisten und Neonazis in Russland Anfang der 2000er Jahre über eine gut ausgebaute Infrastruktur, eigene Kampfgruppen und massive Unterstützung unter Fußballhooligans. Morde an Migranten, Pogrome und andere von ihnen begangene Verbrechen blieben oft nicht nur ungestraft, sondern wurden von den Behörden und Sicherheitskräften stillschweigend gebilligt.
Da es keinen Rückhalt in Form einer Tradition gab, auf die man sich hätte stützen können, entwickelte sich die antifaschistische Bewegung in Russland zunächst von Grund auf neu, als eine kleine, an der Basis entstandene Jugendinitiative, die ihren spontanen Reaktionen auf die Willkür der Nazis freien Lauf ließ. Die offizielle sowjetische Version des Antifaschismus hatte zu diesem Zeitpunkt komplett an Relevanz verloren und spielte daher für diese Entwicklung kaum eine Rolle.
Nach der kriminellen Umverteilung von Volkseigentum und der Privatisierung in den 1990er Jahren durchlief Russland in den frühen nuller Jahren verschiedene Phasen der Stärkung der Staatsmacht und der Aufwertung der Geheimdienste. Die Rolle der nationalistischen Rhetorik in diesen Prozessen und die Verbindung des Staatsapparats mit nationalistischen Organisationen werden in mehreren Artikeln des Menschenrechtsaktivisten und Antifaschisten Stanislav Markelov recht emotional, aber äußerst präzise analysiert.
In seinem Text „Patriotismus als Diagnose“ beschreibt er den vom kriminellen Staat geförderten Patriotismus als eine Krankheit der Gesellschaft, als Instrument zur Entpolitisierung, die die schweigenden Mehrheit in einen passiven Zustand versetzt, als Trick, der die Menschen von der wachsenden sozialen Ungleichheit ablenkt.
Markelow ist vor allem als Anwalt der Opfer in dem aufsehenerregenden Prozess gegen Oberst Budanow bekannt, der wegen Vergewaltigung und Mord an der tschetschenischen jungen Frau Elsa Kungaeva angeklagt war. Markelows kompromisslose Haltung gegenüber dem Nationalismus und seine konsequente Unterstützung der Antifaschist:innen riefen nicht nur bei Vertretern neonazistischer Gruppierungen, sondern auch bei nationalistisch gesinnten Militärs und Vertretern der Sicherheitskräfte starke Verärgerung hervor. Am 19. Januar 2009, also einige Jahre nach der Ermordung von Timur Kacharava, wurde Stanislav Markelow durch einen Kopfschuss im Zentrum Moskaus getötet. Neben ihm wurde auch die Journalistin, Antifaschistin und Umweltschützerin Anastasia Baburova tödlich verletzt, die später am selben Tag im Krankenhaus verstarb.
Im Laufe der Ermittlungen stellte sich heraus, dass hinter dem Mord an Markelow und Baburowa die Kampforganisation Russischer Nationalisten (“БОРН”) stand, die später für die Ermordung von mindestens zehn weiteren Menschen zur Verantwortung gezogen wurde: Antifaschisten, Migranten, Mitarbeiter der Strafverfolgungsbehörden und Sportler nichtrussischer Herkunft. Die Mitglieder der Gruppe hatten Zugang zu den Adressen und Fotos linker Aktivist:innen aus der Datenbank des Zentrums zur Bekämpfung des Extremismus des russischen Innenministeriums, und eines der Mitglieder der Gruppe war ehemaliger Mitarbeiter des FSB (Inlandsgeheimdienst und Geheimpolizei der Russischen Föderation).
Nach unseren Informationen war auch der Angriff auf Timur kein Zufall: Die Mörder hatten gezielt nach ihm gesucht. Wir wissen nicht genau, was der Grund für diese besondere Aufmerksamkeit war. Möglicherweise ist Timur aufgrund seines auffälligen Äußeren und seines exzentrischen Verhaltens bei einer der antifaschistischen Aktionen aufgefallen; wahrscheinlich hat auch sein nichtrussischer, georgischer Nachname Aufmerksamkeit erregt. Wir wissen mit Sicherheit, dass Timur ehemalige Freunde hatte, die Neonazis geworden waren und Informationen darüber hatten, wer er ist und wie er heißt.
Die blutigen Straßenkämpfe zwischen Neonazis und Antifaschisten in Russland kamen zu einem Ende, als der Staat von seinem Gewaltmonopol Gebrauch machte. Rechtsradikale, die sich nicht in das System einfügen konnten, wurden dem autoritären Regime irgendwann zum Hindernis, so dass der Staat schließlich mit Repressionen gegen sie vorging. Diejenigen unter ihnen, die ihre Loyalität unter Beweis stellten, wurden selbst Teil des Repressionsapparats, während die antifaschistische Bewegung zum offiziellen „Staatsfeind” erklärt wurde undweiterhin systematischen Repressionen ausgesetzt ist. So zu sehen, wie am Beispiel des „Netzwerk”-Falls (“Дело Сети”) und der späteren Strafverfolgung in Tyumen (“Тюменское дело”).
Die Artikel von Stanislav Markelow helfen zu verstehen, wie der mit dem Einzug des Kapitalismus einhergehende Zerfall sozialer Bindungen, die Entpolitisierung und der von Ressentiments geprägte Patriotismus zur Festigung eines autoritären politischen Regimes beigetragen haben, das auf dem Kult roher Gewalt basiert. Das logische Ergebnis dieser Prozesse war der aggressive imperialistische Krieg in der Ukraine, dessen Wahrscheinlichkeit Markelow ebenfalls in seinen Texten vorhergesagt hatte.
Der Kampf ist nicht vorbei, er geht in neuer Form weiter
Auf den ersten Blick mag es so aussehen, als wäre der Kampf, den wir geführt haben, sinnlos und von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen. Heute befinden wir uns in einer verkehrten Welt, in der Sichtbarkeit wichtiger geworden ist als der eigentliche Inhalt, in der jeder Wortlaut seiner Bedeutung beraubt wird und viele Begriffe und Wörter jeglichen Sinn verlieren, in dem sie völlig auf den Kopf gestellt werden. Diese Sinnentleerung schafft gleichzeitig zu Misstrauen gegenüber allem und nötigt die Menschen auf paradoxe Weise dazu, an die irrationalsten Versionen des Geschehens zu glauben. In dieser Welt verkommt der Kampf gegen den Nazismus zum Vorwand imperialistische Ambitionen umzusetzen, ganze Städte dem Erdboden gleichzumachen, während die Bekämpfung des Antisemitismus benutzt wird, um einen sondergleichen Genozid und kulturellen Rassismus zu rechtfertigen, der Menschen, die bestimmte kulturelle Werte nicht teilen, der Mitmenschlichkeit und des menschlichen Status für unwürdig erklärt.
Das verzerrte Spiegelbild der Repräsentation, das die lebendige Wirklichkeit vollständig ersetzt hat, ist eine direkte Folge der Ästhetisierung der Politik, über die Walter Benjamin, der bereits zuvor in diesem Text erwähnt wurde, schon zu Beginn unserer Moderne geschrieben hat.
Der moderne Kapitalismus ist die Fortsetzung und eine neue Entwicklungsstufe der “Gesellschaft des Spektakels”, das zu einem Spektakel technologisch vermittelter Kommunikation geworden ist; er hat sich als fähig erwiesen, praktisch jede befreiende und subversive Idee aufzunehmen, zu verinnerlichen, zu verzerren und in seinen Dienst zu stellen.
Pierre Bourdieu verwendete in seinem Werk „Der praktische Sinn“ (1972) den Begriff „Doxa“, um allgemein akzeptierte Wahrheiten und Urteile zu bezeichnen, die nicht hinterfragt und kritisch reflektiert werden. Er stellt die Doxa der “Meinung” gegenüber – dem, was offen angefochten und diskutiert werden kann. Wir müssen anerkennen, dass viele unserer Träume zur Doxa des linksliberalen Mainstreams geworden sind, zum Tauschobjekt in Kulturkriegen, die uns angesichts des realen Bürgerkriegs, den das Kapital mit unveränderlichem Erfolg gegen uns führt, betäuben und entwaffnen.
Aber ”Erinnern heißt Kämpfen”. Dieses Motto der deutschen Antifaschisten ist nicht nur eine Aufforderung, sich mit Vergangenheit auseinanderzusetzen, sondern vor allem ein Aufruf zum Handeln in der Gegenwart. Die Erinnerung an gefallene Kameraden hat keine kollektive Dimension, wenn sie nicht Teil des Kampfes wird, wenn sie nicht die „eine schwache messianische Kraft, auf die die Vergangenheit Anspruch hat“, erkennt und spürt. Wir verweigern der gefälschten Welt weiterhin das Recht auf Existenz und rufen euch auf, für eine neue Welt zu kämpfen, gemeinsam mit uns zu kämpfen bzw. besser, bewusster und konsequenter zu kämpfen als wir. Wir sind weiterhin auf der Seite der Lebenden, derer, die sich weigern, Opfer zu sein, die sich weigern, eigene Ünterdrückung auszunutzen, und die bereit sind, sich im Kampf gegen das vielköpfige Ungeheuer selbst zu opfern. Aber wir bitten Sie, nicht zu vergessen, dass wir, wenn wir einen seiner Köpfe abschlagen, niemals sicher sein können, dass an seiner Stelle nicht ein neuer wächst. Unser Hauptziel ist es, die Hydra ins Herz zu treffen. Dieses Herz ist die Produktion neoliberaler Subjektivität selbst, die Formatierung unserer Beziehungen, Denkweisen und Lebensweisen durch den Kapitalismus.
Vergessen Sie nicht, dass wir alle Teil des Spektakels werden, wenn wir die Bühne betreten. Vermeiden Sie daher Identität, diese versteckte symbolische Währung. Menschen, die sich weigern, das Spiel der Identität mitzuspielen, können vom System nicht vollständig erkannt werden und stellen daher eine unsichtbare, aber reale Bedrohung für es dar. Die Ablehnung der allgemein akzeptierten und allgegenwärtigen Politik der Identität ermöglicht es, jeden Menschen nicht als eine Reihe vorgegebener Einstellungen zu sehen, sondern als eine Möglichkeit, und eröffnet damit eine universalistische Dimension der Realität und des Zusammenlebens.
Geht in den Schatten, seid anonym und unsichtbar, sucht nach sicheren Kommunikationswegen, sucht nach Räumen, die für Kontrolle und Überwachung unzugänglich sind. Versteckt euch in den Spalten und Rissen dieser Welt. Nur in solchen Räumen sind heute echte Freundschaft und echte internationale Solidarität möglich; nur dort können lebendige Worte und unverfälschte Kunst existieren, und damit ist auch Kommunismus möglich.
NEIN, NO, NET!
Nein! No! Net! So schrien diejenigen, deren Kinder getötet wurden. So schrien die Kinder, die durch nächtliches Klopfen an der Tür und den Geruch von Blut, durch nächtliches Klopfen an der Tür und den Geruch erschreckt wurden. Haltet sie auf! Haltet ein! Haltet sie auf! Haltet ein! Sie wissen nicht, dass sie Freiheit brauchen. Sie haben vergessen, dass wir … Freiheit brauchen. Freiheit! Du bist mein! Körper! Libertad tu eres mi cuerpo! Freiheit! Du bist mein! Körper! Wenn wir selbst nichts geben, schließen wir sie in einen Käfig ein. Wenn wir nicht in der Lage sind, Opfer zu bringen, dann ist unser Lebensstil ein Gefängnis. Und je mehr Dinge und Worte darin sind, desto eher werden wir alle ersticken. Libertad tu eres mi cuerpo! Ich glaube immer noch, ich weiß es immer noch. Ich werde sein, ich bin.
NEIN, NO, НЕТ!

